Wissenschaftlichkeit

Wissenschaftlichkeit von Gutachten

Immer wieder beschäftigen sich Fachkräfte, aber teilweise auch betroffene Eltern, mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit von psychologischen Sachverständigengutachten.

Eine psychologische Begutachtung ist ähnlich wie eine medizinische Untersuchung einer Person, z.B. in einer Universitätsklinik, keine wissenschaftliche Arbeit an sich, sondern die Anwendung von wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen bei einer speziellen Fragestellung. Auch ein medizinischer Patient erwartet, dass seinen individuellen Problemen mit einer fachlich-fundierten Diagnostik auf den Grund gegangen wird, nur in Ausnahmefällen will er dabei Teil einer wissenschaftlichen Studie sein. Sein Interesse besteht in erster Linie in einem begründeten Heilungsplan und Erklärung von Interventionsmaßnahmen, die dem Stand der Wissenschaft entsprechen und von daher am ehesten eine Verbesserung für ihn versprechen.

Ein ähnliches Vorgehen ist auch auf den psychologischen Sachverständigen zu übertragen. Auch er hat immer einen spezifischen Einzelfall vor sich und nicht Teilnehmer einer wissenschaftlichen Studie. Die Begutachtung als forensisch-angewandte Unterdisziplin der wissenschaftlichen Psychologie zeichnet sich durch folgende Komponenten aus:

  • die Aufgabe und die Rolle des Sachverständigen wird durch den gerichtlichen Auftrag bestimmt;
  • das Gericht, die gerichtliche Fragestellung und die geltenden Gesetze bestimmen die Rahmenbedingungen des Vorgehens;
  • der Sachverständige beachtet die ethischen Richtlinien seines Berufsstandes;
  • bei der Auswahl der Verfahren orientiert sich der Sachverständige an den Vorgaben seines Berufsstandes.

Es gibt keine allgemeingültigen Regelungen über das genaue Vorgehen des Sachverständigen, allerdings besteht sehr wohl fachliche Übereinstimmung über bestimmte notwendige Schritte.
Danach soll der Sachverständige in der Regel:

  • die juristische Frage in spezifische psychologische Fragen übersetzen
    (Beim Bilden solcher fallspezifischen „Hypothesen“ soll sich der Sachverständige auf anerkannte psychologische Theorien beziehen, ohne dass diese für den jeweiligen Einzelfall bereits Vorhersagen erlauben oder Empfehlungen bedingen. Der Sachverständige sollte immer mehrere alternative Erklärungsmöglichkeiten berücksichtigen und überprüfen);
  • mindestens ein Gespräch mit den betroffenen Erwachsenen und dem Kind führen;
  • relevante psychodiagnostische Verfahren einsetzen;
  • das Verhalten des Kindes und die Interaktion des Kindes mit den betroffenen Erwachsenen beobachten;
  • bei Bedarf relevante Drittpersonen befragen.

Einfühlungsvermögen des Sachverständigen in die Situation der Familienmitglieder stellt eine wichtige Grundlage der Arbeit dar. Allerdings ist eine nur verstehende Diagnostik mit intuitiver Datensammlung und subjektive Bewertung, in die dann womöglich noch persönliche Werthaltungen des Sachverständigen einfließen, keine Grundlage für eine gerichtlich verwertbare gutachterliche Empfehlung. Ein unmethodisch, empathischer Zugang entspricht weder den juristischen Anforderungen an eine sachverständige Begutachtung noch der moralischen Verantwortung des Sachverständigen gegenüber der Familie.

Vielmehr sollte der Sachverständige auf der Basis seiner methodisch gewonnenen Informationen sowohl auf eine Einigung der Betroffenen hinwirken als auch die gerichtliche Fragestellung beantworten. Hierzu greift der Sachverständige entsprechend der individuellen Konstellation und Fragestellung in der Familie auf das Wissen der psychologischen Fachdisziplinen und auf die diagnostischen Instrumente der Psychologie zurück und wendet Gesprächsmethoden der systemischen Familienpsychologie, der Mediation oder der Beratungspsychologie an.

Da der Sachverständige immer mit einer speziellen Familie befasst ist, deren Konfliktsituation individuell ist, können die Anforderungen an Wissenschaftlichkeit, wie sie etwa an wissenschaftliche Forschung gestellt werden, nicht übertragen werden. So kann der Sachverständige sich z. B. nicht auf ein standardisiertes Vorgehen beziehen, auch eine Vergleichsgruppe, wie im wissenschaftlichen Experiment, kann er nicht bilden oder Daten in einem Umfang erheben, die eine repräsentative Stichprobe garantieren. Auch kann er nicht auf eine standardisierte Testbatterie zurückgreifen. Er hat sich auf die spezifischen Bedürfnislagen, Konfliktsituationen und Möglichkeiten der Familien einzulassen, ein individuell maßgeschneidertes Vorgehen zu entwickeln und mit den Eltern für ihre spezielle Familie passende Interventionsmaßnahmen zu erarbeiten.

Auch ein schriftliches Gutachten hat bestimmten Kriterien zu entsprechen. Hierbei sind insbesondere Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Ausführungen zu nennen. Gleichzeitig muss ein schriftliches Gutachten die umfassenden Erhebungen immer verkürzt darstellen, sich auf das Wesentliche beschränken und nur entscheidungserhebliche Daten darlegen, die dann vor dem Hintergrund psychologischer Kriterien zu diskutieren sind. Gerade im lösungsorientierten Vorgehen ist eine ausführliche Darstellung der Daten und der Befunde nicht in jedem Fall sinnvoll, insbesondere dann nicht, wenn diese eher zur Verschärfung der elterlichen Konflikte eher beitragen.